Eine Schule für alle – 100 Jahre Grundschule

1. August 2019
5 Minuten lesen

Vor 100 Jahren wurde in Deutschland die allgemeine Schulpflicht eingeführt und in Artikel 145 der Weimarer Verfassung verankert. Sie löste die bis dahin geltende Unterrichtspflicht ab, die es auch ermöglichte, Kinder ausschließlich zu Hause zu unterrichten. In diesem Jahr feiert die Grundschule nun ihren 100. Geburtstag. Eine gute Gelegenheit, einmal zu schauen: Wie hat sich das Lehren und Lernen im Laufe des vergangenen Jahrhunderts entwickelt und wie wird – gerade mit Blick auf die zunehmende Digitalisierung und auf neue Medien die Zukunft aussehen? „WortMelder“ hat bei den Organisator*innen der Tagung „Eine Schule für alle – 100 Jahre Grundschule. Mythen, Widersprüche, Gewissheiten“, die im September an der Uni Erfurt stattfindet, nachgefragt…

Frau Prof. Tänzer, 100 Jahre allgemeine Schulpflicht – ein Grund zum Feiern?
Ja, dass es eine Schulpflicht gibt, die für alle Kinder gilt, halte ich für einen Grund, zu feiern. Kinder leben in sehr unterschiedlichen – durchaus von den Lebenswelten der Lehrkräfte differierenden – Milieus. Zu ihrer Daseinsbewältigung gehören auch Erfahrungen von Armut, Flucht und Vertreibung, Benachteiligung und Ausgrenzung. Würde jedes Kind zur Schule gehen können, wenn es keine Schulpflicht gäbe? Wer in eine Familie hineingeboren wird, die in materieller Not lebt, wird als Kind möglicherweise wirtschaftlich zum Lebensunterhalt der Familien beitragen müssen. Mit der Schulpflicht sichern wir allen Kindern Lern- und Bildungsgelegenheiten zu, um selbstbestimmt denken und handeln zu können. Nun kann man natürlich nicht sagen, dass Kinder nicht auch ohne die Schule ihr Leben bewältigen würden. Sie würden einkaufen gehen, Freude treffen, ihren Hamster pflegen und brauchen dazu die Schule nicht. Denn von Anbeginn an sind Kinder darauf aus, sich in ihrer Welt zurechtzufinden. Was sie dabei tun, kann, muss aber nicht ins Nachdenken, in die bewusste Vorstellung, in Sprache, die Kommunikation und Reflexion, in Modelle und Konzepte gelangen. Durch die Schule versuchen wir, dass Kinder heraustreten aus ihren lebendigen Beziehungen zu ihrer Welt, Distanz gewinnen, um die Welt und ihre Phänomene und Probleme aus einigem Abstand als etwas Gegenüberstehendes zu gewinnen, zu verstehen und zu ordnen und ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt aufzubauen. Ein weiterer Gedanken ist mir ganz wichtig: Mit Blick auf aktuelle Entdemokratisierungstendenzen haben wir heute die Frage zu beantworten, wie es gelingen kann, Kinder zu selbstbestimmtem, mitbestimmendem und solidarischem Handeln in einer multikulturellen Gemeinschaft zu befähigen, ohne dabei Schule und Unterricht instrumentell in den Dienst bestimmter politischer Geisteshaltungen zu stellen. Die Grundschule ist ein solcher Ort, an dem man lernt, in einer Gemeinschaft von Verschiedenen klarzukommen. Sie ist ein Ort demokratischen Lernens.

Vor welchen Herausforderungen steht die Grundschule denn heute mit Blick auf die Zukunft?
Dr. Nadine Böhme: Diese Herausforderungen sind vielfältig, zum Beispiel im Hinblick auf einen gewinnbringenden Einsatz von digitalen Medien und die Vorbereitung unserer Kinder auf eine digitalisierte Welt – mit ihren Chancen und auch Risiken. Eine weitere Herausforderung ist die zunehmende Heterogenität der Schüler und in diesem Kontext die Inklusion. Dabei tragen ein heterogener werdendes Leistungsspektrum oder nicht-muttersprachlich aufgewachsene Kinder zu einer vielfältigeren Zusammensetzung der Schülerschaft bei, wodurch die Schulen einem viel breiteren Spektrum an Bedürfnissen der Kinder gegenüberstehen. Auch die Verhinderung der Benachteiligung von Kindern aus sozialschwachen Familien ist eine wichtige Aufgabe. Verschiedene Studien haben Zusammenhänge zwischen dem Bildungserfolg von Kindern und den Ressourcen im Haushalt gezeigt. Vor diesem Hintergrund sind Schulen heute gefordert, gerade auch Kinder aus sozialschwachen Familien zu unterstützen, um negative Folgen wie geringere Arbeitsmarktchancen abzumildern.

Die Universität Erfurt und vor ihr die Pädagogische Hochschule bildet seit mehr als 50 Jahren Lehrerinnen und Lehrer aus für die Grundschule aus. Lesen, Schreiben, Rechnen – damals wie heute lernen sie, wie man Kindern diese basalen Fertigkeiten beibringt. Und doch ist die Lehrerbildung schon oder gerade auch für die Grundschule heute wesentlich komplexer früher. Was hat sich denn hinsichtlich der Anforderungen und Methoden verändert?
Prof. Dr. Heike Hahn: Nehmen wir zum Beispiel das Rechnen: Zum einen haben sich Ziele des Unterrichts verändert. Über das Rechnen hinaus hat Mathematik die Aufgabe, Schüler zum Erkennen und Nutzen von Mustern und Strukturen anzuregen. Es geht darum, Verständnis für mathematische Inhalt aufzubauen, also warum beispielsweise ein Quadrat auch ein Rechteck ist oder warum 1×1-Reihen zueinander in Beziehung stehen und sich Kinder deshalb bestimmte Aufgaben durch Ableiten selbst erschließen können. Studierende stehen demzufolge heute vor der Aufgabe, sich die für das Verständnis mathematischer Inhalte grundlegenden fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Konzepte anzueignen.

Wie begegnet die Uni Erfurt den aktuellen Herausforderungen in der Lehrerbildung oder anders: Welche Maßnahmen ergreift sie, um die künftigen Lehrerinnen und Lehrer bestmöglich auf ihren Beruf vorzubereiten?
Dr. Benjamin Dreer: Die Ausbildung von angehenden Lehrerinnen und Lehrern ist für uns eine Aufgabe mit großer Verantwortung. Wir glauben deshalb, dass ein Teil der Antwort auf den raschen gesellschaftlichen Wandel auch in Beständigkeit liegt. Lehrerinnen und Lehrer auszubilden, bedeutet für uns gerade nicht, in unseren Strukturen und Inhalten Einstellungsbedarfen und bildungspolitischen Stichworten nachzueifern. Vielmehr muss es darum gehen, auch bei wachsender Nachfrage und zunehmenden Aufgaben von Lehrkräften, die gute Qualität der Ausbildung zu wahren. Wir sollten uns darauf besinnen, was wir angehenden Lehrkräften besonders gut an unserer Hochschule vermitteln können. Dazu zählen u.a. wissenschaftlich fundiertes Wissen, forschende Zugänge zu Bildungsprozessen, aber auch systematisch begleitete Praxiserfahrungen. Gleichzeitig sollten wir uns von dem lösen, was wesentlich besser in der zweiten Ausbildungsphase vermittelt werden kann. Mit systematischen Kooperationen von erster und zweiter Phase sollte daran gearbeitet werden, die Ausbildung ganzheitlicher zu entwickeln. Auf der Grundlage dieser Prämissen arbeiten wir seit 2016 an der Uni Erfurt im Projekt QUALITEACH, das der Lehrerbildung einen echten Entwicklungsschub ermöglicht hat. Damit wurde und werden bestehende Angebote gestärkt und ausdifferenziert und zahlreiche Zusatzangebote entwickelt, die es nun nachhaltig zu verankern gilt.

Wenn Sie sich für die Lehrerbildung von der Politik heute etwas wünschen dürften – was wäre das?
Dr. Sigrid Heinecke: Aktuell fördern Bund und Länder die Lehrerbildung mit 500 Millionen Euro im Rahmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung – gut angelegtes Geld für innovative Ansätze in den beteiligten Universitäten. Aber die Strukturen der Lehrerbildung, die mit ihren drei Phasen ziemlich einmalig in der Welt sind, werden damit nicht verändert. Wir haben eine relativ lange Ausbildungszeit, aber zu wenig akademische Angebote für das lebenslange Lernen von Lehrerinnen und Lehrern. Und sie sind es doch, die Kindern den neuesten Stand des Wissens vermitteln sollen. Vor diesem Hintergrund würden wir uns eine engere Verzahnung der akademischen Studienanteile und der schulpraktischen Ausbildungsanteile, verbindliche Zeiten für nachhaltige Fortbildung im Berufsleben und Ressourcen an den Universitäten für akademische Fortbildungsangebote wünschen. Und nicht zuletzt eine verlässliche Bildungspolitik, die nicht an Legislaturperioden gebunden ist, sondern die Bildungschancen der Schülerinnen und Schüler als Maß aller Dinge ansieht.

Im September ist die Universität Erfurt Gastgeber der 28. Jahrestagung der DGfE-Kommission Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe. Unter dem Titel „Eine Schule für alle – 100 Jahre Grundschule“ diskutieren dann Fachleute aus ganz Deutschland über Mythen, Widersprüche und Gewissheiten. Welche Impulse erhoffen Sie sich alle von der Veranstaltung?
Wir freuen uns auf einen breiten Diskurs über konzeptionelle Überlegungen, Forschungen und Praxiserfahrungen in und über die Grundschule. Mit dem „Call“ haben wir ja explizit das einhundertjährige Bestehen der Grundschule zum Anlass genommen, eine Bestandsaufnahme über Mythen, Widersprüche und Gewissheiten in ausgewählten Forschungsfeldern der Grundschulforschung vorzunehmen und mit aktuellen Entwicklungs- und Forschungslinien zu verknüpfen. Dabei interessieren uns Fragen wie: Welche großen Mythen konnten in Praxis und Öffentlichkeit trotz klarer oder aber gerade wegen Widersprüchen in den Forschungsbefunden bislang nicht ausgeräumt werden? Mit welchen Forschungsfragen, Forschungsmethodologien und -methoden kann widersprüchlichen oder lückenhaften Befunden begegnet werden? Welche Art von Öffentlichkeitsarbeit und Transferleistungen der wissenschaftlichen Community wäre für eine Entmystifizierung und Versachlichung der gesellschaftlichen Diskussion um die Grundschule erforderlich? Was gilt demgegenüber als Gewissheit, als gesichertes Wissen darüber, wie und unter welchen Bedingungen professionelle Akteure der Grundschule ihre Aufgaben wahrnehmen und mit ihren Grenzen reflektiert umgehen können? Mit unserer Tagung möchten wir die historische Dimension der Grundschule zu Forschungsergebnissen, bildungspolitischen Entwicklungen und pädagogischen Herausforderungen dieser Schulart heute in Bezug setzen und natürlich auch die Gelegenheit nutzen, den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern die wirklich guten Entwicklungen an der Uni Erfurt vorzustellen.

Der Beitrag Eine Schule für alle – 100 Jahre Grundschule erschien zuerst auf WortMelder.

Quelle: https://aktuell.uni-erfurt.de/2019/08/01/eine-schule-fuer-alle-100-jahre-grundschule/