Frühlingslese mit Marianne Birthler: Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben.

9. April 2014
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Mit Erinnerungen ist das so eine Sache. Sie sind manches Mal trügerisch, zeichnen die Vergangenheit in ein weiches Licht oder sogen für Übertreibungen, die eher unspektakulären Ereignissen zu Gewicht verhelfen sollen. Dem zehnten Kapitel ihrer Autobiografie hat Marianne Birthler ein Zitat Erich Maria Remarques vorangestellt: „Das Wunder, wenn man es erlebt, ist nie vollkommen. Erst die Erinnerung macht es dazu.“ Es beschreibt die Gefühlslage einer Frau, die fast den Glauben an ihre Mitmenschen verloren hatte. Bis zu diesem 4. November 1989 und der großen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz.
25 Jahre später sitzt Marianne Birthler im Erfurter Augustinerkloster und unterhält sich mit Henry Bernhard. Der fragt, wann Sie wusste, wann sie fühlte, dass die Veränderung im Land nicht mehr aufzuhalten ist, die Entwicklung sich nicht mehr umkehren lässt. Der 4. November, antwortet sie prompt. Diese große Demonstration, mit alle den witzigen Plakaten, getragen von Kreativität. In einem Ausmaß, das sie den Menschen nicht mehr zugetraut hatte. Die Freude darüber bricht auch nach so langer Zeit aus ihr heraus. „Wissen Sie“, sagt sie zum Moderator, „Menschen, die sich frei fühlen, sehen automatisch schöner aus.“
Dieser 4. November teilt Marianne Birthler Leben gleichsam in zwei Teile. Das vor, und das nach der friedlichen Revolution. So ist auch dieser Abend strukturiert. Familie, Revolution, Macht. Sie liest Passagen aus ihrem Buch zum jeweiligen Teil vor, und spricht dann mit Henry Bernhard darüber.
Das gibt dieser Lesung – einer Kooperation mit Heinrich-Böll- und Ettersberg-Stiftung – nicht nur Kontur, es gibt ihr Witz und Wärme. Ihr Text ist historisch abgeklopft, Freunde haben sich seiner angenommen, er beschreibt – nach bestem Wissen der Autorin – wie es war. Spaß, schlimmer noch Ironie, hat bei den Fakten wenig zu suchen. Ihren feinen Humor führt Marianne Birthler dafür im Gespräch immer wieder ins Feld – und bringt ihr Publikum zum Lachen.
Das tut dem Buch, das tut dem Thema gut. Allzu oft verstünden die Menschen Kritik an den früheren Verhältnissen als Anklage, als Vorwürfe, die ihre Lebensleistung in Frage stellten. Das findet die Autorin schade; auch in der Enge und den Zwängen der DDR war ein erfülltes, ein glückliches Leben möglich. Ein Leben, das viele Widerstände, Irrungen und Wirrungen, Dogmatik und Bosheit kannte, aber auch Solidarität und Freundschaft. Den Zickzack ihres eigenen Lebens erinnert sie eher als Bereicherung. Sie zitiert ihre Schwiegermutter: „Umwege erhöhen die Ortskenntnis.“
Und führen schließlich doch zum Ziel.