Brücke mit Kreuz

Warum sich die Evangelische Kirche gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus engagieren muss. Eine theologische Perspektive von Prof. Dr. Michael Haspel

14. Dezember 2018
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Dass der christliche Glaube mit rechtsextremen Ideologien nicht vereinbar ist, werden die meisten bejahen. Aber wie sieht es mit rechtspopulistischen Parolen aus? Und warum soll sich die Kirche auch in der Gesellschaft, gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen und dem Staat, aktiv gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus engagieren? Wesentliche Elemente rechtsextremen Gedankenguts sind Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Orientierung an autoritären Strukturen, Demokratie und Pluralitätsabwertung, Bestreiten von Gleichheit etc. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass diese Aspekte mit der Grundorientierung des christlichen Glaubens unvereinbar sind und die Kirche zum Widerspruch und Widerstand aufgefordert ist. Allerdings ist es ja keinesfalls so, dass diese Einstellungen zum Teil nicht auch von Christinnen und Christen geteilt werden. Es ist also nicht so, dass wir als Kirche per se Teil der Lösung sind. Die evangelische Kirche steht hier in der Verantwortung, Konsequenzen aus der eigenen Geschichte zu ziehen. In Mitteldeutschland waren es, wie in anderen Gebieten auch, gerade die sehr protestantisch geprägten Gebiete, in denen die NSDAP 1932 und in der März-Wahl 1933 überproportional erfolgreich war. Vergleicht man diese Regionen mit den Wahlergebnissen von rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien heute – und auch mit der Häufigkeit rassistischer und rechtsextrem motivierter Gewalttaten –, so lässt sich wieder eine, wenn auch schwächere, Übereinstimmung feststellen. Sogenannte Stammtischparolen gibt es nicht nur im Wirtshaus, auch in kirchlichen Zusammenhängen und Familien von Kirchengliedern begegnen wir ihnen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass wir Teil des Problems sind, um Teil der Lösung werden zu können.

1. Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde
In der Schöpfungserzählung am Beginn des biblischen Zeugnisses wird überliefert, dass Gott die Menschen, alle Menschen, als Bild seiner selbst erschafft: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib“ (1. Mose 1,27). Alle Menschen sind also nicht nur Gottes Geschöpfe, sondern seine Ebenbilder. Dadurch ist die besondere Beziehung Gottes zu den Menschen zum Ausdruck gebracht. Er setzt sich zu den Menschen in Beziehung. Sie sind von Gott gewollt. Sie sind nicht einfach zufällig da, sondern stehen von Anfang an in einer kommunikativen Beziehung, die Geschichte und Lebensgeschichte eröffnet und begleitet. Deshalb ist in der Gottebenbildlichkeit nach christlichem Verständnis die Würde aller Menschen angelegt. Bei rechtsextremen Einstellungen und Ideologien spielt die Ungleichheit von Menschen aufgrund ihrer Abstammung und Kultur eine große Rolle. Dies ist mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit aller Menschen nicht vereinbar.

2. Die Kirche Jesu Christi ist multikulturell
Schon Paulus hat theologisch geklärt, dass die gute Nachricht von der Gerechtsprechung der Sünderinnen und Sünder durch den Glauben an Jesus, den Christus, allen Menschen gilt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Die christliche Kirche ist deshalb offen für alle Menschen, egal welcher Abstammung sie sind, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sozialen Stellung usw. Die christliche Kirche war von Anfang an multikulturell. Das Evangelium hat eine universale Tendenz: Auch in dieser Perspektive wird deutlich, dass das biblische Zeugnis im Gegensatz zu rassistischen und sexistischen Inhalten rechtsextremer Überzeugungen steht. Die Herausforderung bleibt aber bestehen, unterhalb der Oberfläche einer liberalen Haltung, rassistische und sexistische Einstellungen und Stereotype in der Alltagspraxis zu hinterfragen. Begegnungen in der Ökumene weltweit und im eigenen Land können dazu beitragen, eigene Einstellungen und Wertungen zu überprüfen. Einige unserer Partner-Kirchen haben dazu eigene Programme entwickelt, um unbewussten und institutionellen Rassismus und Sexismus offen zu legen und zu deren Überwindung beizutragen.

3. Die bleibende Erwählung der Jüdinnen und Juden
Der ursprüngliche Bund Gottes galt seinem erwählten Volk Israel, dem er sich offenbart hat. Nach christlichem Verständnis hat Gott diesen Bund durch die Offenbarung in Jesus Christus für alle Menschen geöffnet, die an ihn glauben. Der ursprüngliche Bund bleibt aber in seiner Besonderheit erhalten: „Wenn aber nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind und du, der du ein wilder Ölbaum warst, bist unter sie gepfropft und teilhaftig geworden der Wurzel und des Saftes im Ölbaum, so rühme dich nicht wider die Zweige. Rühmst du dich aber wider sie, so sollst du wissen, dass nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,17f). Deshalb sind Christinnen und Christen dem Volk Israel in besonderer Weise verbunden. Jesus und die Glieder der Urgemeinde waren Juden. Deshalb ist jede Form des Antisemitismus vom biblischen Zeugnis und christlichen Glauben her abzulehnen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es auch im Christentum verhängnisvolle Formen des Antijudaismus gab und gibt. Gerade deshalb wird sich die evangelische Kirche gegen den Antisemitismus in der Gesellschaft wenden.

4. Demokratische Kultur gehört zur neuzeitlichen Gestalt des Protestantismus
In Entsprechung zu diesem Verständnis der Gleichheit aller hat sich mit der Zeit in den evangelischen Kirchen die Überzeugung herausgebildet, dass die angemessene Form der Kirchenleitung nur geschwisterlich sein kann. Die calvinistisch und freikirchlich geprägten Kirchen in England und Nordamerika waren hier Vorreiter. In einer Kirche, in der alle von gleichem Wert und gleicher Würde sind, auch wenn sie unterschiedliche Funktionen ausüben, geschieht die Kirchenleitung in presbyterial-synodaler Weise. Immer wieder sind von den demokratischen Strukturen und der demokratischen Kultur evangelischer Kirchen – wie unvollkommen sie auch gewesen sein mögen – Anstöße zur Demokratisierung von Gesellschaften ausgegangen. Die friedliche Revolution 1989 in der damaligen DDR ist ein eindrückliches Beispiel in unserem eigenen Land. Aber auch die Rolle der Schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung der USA ist hier zu nennen. Deshalb bejaht die evangelische Kirche den demokratischen Rechtsstaat. Dies widerspricht den demokratiefeindlichen Positionen rechtsextremer und rechtspopulistischer Ideologien und deren Bejahung einer autoritären oder diktatorischen Regierung durch einen „starken Mann“.

5. Der rechtsstaatliche Schutz der „Fremdlinge“
Obwohl gerade im Alten Testament vielfach Berichte von Gewalt gegen andere Völker und Fremde überliefert sind, findet sich doch eine erstaunliche Tendenz gerade zum Schutz fremder Menschen. Wohl aufgrund der eigenen Erfahrungen in Exilsituationen (Ägypten, Babylon) haben sich so in der Rechtsordnung Israels besondere Formen des Schutzes von Ausländern entwickelt: „Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen“ (2. Mose 22,20). Die so genannten „Fremdlinge“ wurden den Einheimischen gleichgestellt. Beachtenswert ist dabei, dass diese Regelungen in die Rechtssammlungen des Alten Testaments aufgenommen wurden, ihnen also eine besondere Form der Verbindlichkeit und Bedeutung gegeben wurde: „Es soll ein und dasselbe Recht unter euch sein, für den Fremdling wie für den Einheimischen; ich bin der Herr, euer Gott“ (3. Mose 24,22). Zudem gehört es durch die schmerzhaften Erfahrungen der konfessionellen Spaltung und der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts zu den grundlegenden Einsichten der europäischen Gesellschaften, dass rechtsstaatlicher Schutz für alle unabhängig von ihrer Herkunft und Religionszugehörigkeit eine Grundvoraussetzung für die gewaltfreie Konfliktlösung und friedliches Zusammenleben ist. Die christlichen Kirchen engagieren sich auch deshalb in der Gesellschaft für den rechtsstaatlichen Schutz aller Menschen unabhängig von ihrer Herkunft bzw. Religionszugehörigkeit. Die Friedensordnung am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 hat darüber hinaus zu einer politischen Kultur der Toleranz sowie des Ausgleichs und Kompromisses beigetragen, die gerade in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft von bleibender Bedeutung ist.

6. Orientierung auf Gerechtigkeit und Frieden
Der Prophet Jesaja entwirft eine große Friedensvision, die er an die Erwartung eines kommenden Messias bindet: „Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie Rinder. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter“ (Jes 11,5-8). Mit gewaltlosen Mitteln Frieden und Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen und weltweit zu schaffen, ist eine Grundorientierung des biblischen Zeugnisses, das durch die verschiedenen Formen der Überlieferung hindurch zunehmend deutlich wird. Dies widerspricht einer Propagierung des Rechts des vermeintlich Stärkeren, wie es in rechtsextremen und rechtspopulistischen Weltbildern zu finden ist.

7. Der Schutz von Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus gehört zur Weltverantwortung der Kirche
Die Bezeugung des Evangeliums ist konstitutiv öffentlich (Augsburger Konfession, Art. 14). Dies gilt sowohl für den Zuspruch des Evangeliums als auch für den Anspruch, der sich daraus für die Lebensführung der Christinnen und Christen und ihre Mitgestaltung des Gemeinwesens, in dem sie leben, ergibt. Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche folgt aus dem Öffentlichkeitsanspruch des Evangeliums. Die Weltverantwortung gehört zum Evangelium ursprünglich dazu, sie kommt nicht erst hinzu. In diesem Sinne werden sich nicht nur evangelische Christinnen und Christen, sondern die Gemeinden und Kirchen gegen Rechtsextremismus und seine Elemente engagieren. Zum einen weil sie zu unmittelbarer Hilfe herausgefordert werden, wenn Menschen von Rechtsextremen in ihrem Leben beeinträchtigt werden – und das fängt nicht erst bei der Androhung und Anwendung von Gewalt an. Zum zweiten müssen sie sich gegen den gesellschaftlichen und politischen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus wehren, weil er fundamental den christlichen Grundüberzeugungen und Maßstäben widerspricht. Drittens werden die Kirchen im Rahmen ihres Öffentlichkeitsauftrags die demokratische und plurale Kultur- und Institutionenordnung unseres Landes stärken, die Grundlage unseres Gemeinwesens ist, gemäß dem Motto: „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch euch wohl.“ (Jer 29,7) Dazu gehört viertens, zu erkennen, dass Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und weitere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit nicht nur eine Frage individueller und kollektiver Einstellungen ist, sondern gesellschaftlich- institutionelle Ursachen haben. Deshalb gehört es zur Weltverantwortung der Kirche, nicht nur in direkter menschlicher Hilfe aktiv zu werden und Nächstenliebe zu üben, sondern auch die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Mechanismen zu bekämpfen, die Ausgrenzung, Ausbeutung und Abwertung hervorbringen. Dabei sind neben den offensichtlichen Angriffen auf die Menschenwürde zwei Entwicklungen besonders beunruhigend. Zum einen gehört es zur Strategie des Rechtspopulismus, die Grenzen dessen, was als Teil des öffentlichen Diskurses akzeptabel ist, zu verschieben. Die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation ermöglichen hier Entwicklungen, die noch vor kurzem undenkbar waren. Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Gut in der demokratischen Gesellschaft. Und es sollen keine Meinungen verboten oder unterdrückt werden, wenn sie nicht in strafrechtlich relevanter Weise verletzend sind. Aber es sollte immer darum gehen, dass solche Positionen nach dem Motto „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ nicht als normal oder richtig angesehen werden. Nicht alles, was man sagen darf, ist deshalb schon zustimmungsfähig. Besonders rassistische und sexistische Stereotype dienen dazu, die Grenzen des Sagbaren zu testen und schleichen sich in die Alltagskommunikation ein. Bestimmte Positionen als falsch und menschenrechtsverletzend zu bewerten heißt ja nicht, sie zu unterdrücken oder zu verbieten, wie von Populisten dann immer behauptet wird, um sich selbst in die Opferrolle zu begeben. Wir erleben dieses Verschieben von Grenzen auch in den kirchlichen Diskursen. Hier gilt es wachsam zu sein, um, was falsch ist, als falsch zu markieren, und was menschenfeindlich ist, als menschenfeindlich. Es ist die prophetische Aufgabe der Kirche nach innen und außen, zu sagen, was ist und darauf zu vertrauen, dass uns die Wahrheit frei machen wird.

Prof. Dr. Michael Haspel lehrt an der Forschungsstelle „Sprache. Kommunikation. Religionsunterricht“ am Martin-Luther-Institut der Universität Erfurt. Sein Beitrag ist unter dem Titel „Wegschauen und Schweigen gilt nicht!“ zuerst erschienen in der Handreichung „REDEN IN SCHWIERIGEN ZEITEN – Nächstenliebe verlangt Klarheit. Bausteine und Materialien für die Arbeit gegen Rechtspopulismus in der Gemeinde“ der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland, abrufbar unter: www.ekmd.de/kirche/themenfelder/extremismus.html

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Quelle: https://aktuell.uni-erfurt.de/2018/12/14/evangelische-kirche-und-rechtspopulismus/